In Emden, wo ich zuerst studiert habe – also korrekt an der Fachhochschule Ostfriesland, wie sie damals hieß – gab es einen Aufkleber mit einem gerupften Vogel der mit „Mehrere Silvester studiert“ tituliert war. Diese Erinnerung ist Grundlage des Titels für diesen Beitrag, in dem ich darlegen möchte, wie man sich nach 9 Semestern Lehre als Hochschullehrer fühlt: Nun, wie bringe ich es auf den Punkt? Gut und gerupft zugleich. Aber eins nach dem anderen:
Ich hatte mich in Coburg nach 4 Semestern gerade eingelebt und am Aufbau eines neuen Studiengangs mitgewirkt, da ging es schon nach Münster. Hier hat sich mein Lehrgebiet nochmal völlig neu ausgerichtet, weil ich mit der Technikdidaktik sowie der beruflichen Lehrerbildung in Coburg wenig zu tun hatte. Von geschätzten 15 (ein wenig konnte ich aus Coburg aufgreifen) auf 100 % hatte ich 18 SWS Lehre in jeweils unterschiedlichen Modulen zu leisten, weil kein Seminar hier zweimal gehalten wird. Darüber hinaus war ich in den letzten Jahren überwiegend in der Mediendidaktik unterwegs, so dass ich einige Entwicklungen aus der Technikdidaktik sowie der Beruflichen Bildung nachholen musste. Ein großer Kraftakt, wenn man viel Lehre neu aufbauen und durchführen muss. Zwar habe ich jetzt nach 5 Semestern in Münster meine Seminare stehen, aber damit es meinen Ansprüchen genügt, fehlt immer noch einiges, bis ich sagen kann: Ich bin zufrieden.
Ehrlich gesagt, gehe ich davon aus, dass ich noch ein paar Semester dafür benötige, vielleicht 3 oder 4. Ich denke dann immer, warum dauert das so lange, als Hochschullehrer hast du doch „nur“ 30 Wochen Lehrveranstaltungen pro Jahr? Dann muss ich darüber schmunzeln, wenn ich mich daran erinnere, was ich als Student gedacht habe: Mensch, super, die haben 5 Monate im Jahr frei. Pustekuchen. Stattdessen gilt es in der lehrveranstaltungsfreien Zeit Prüfungen durchzuführen und zu benoten, Hausarbeiten zu lesen und zu bewerten, Studienabschlussarbeiten zu betreuen und zu bewerten, Praxissemester zu begleiten, (Re-)Akkreditierung abzuwickeln, Kontakte in die Berufskollegs zu suchen und zu pflegen, Projektanträge zu schreiben, Projekte durchzuführen, Studiengänge und Institut weiterzuentwickeln, Beiträge zur Wissenschaftscommunity beizusteuern und natürlich auf dem aktuellen Stand der Dinge zu bleiben, indem man liest oder auch mal auf eine Tagung fährt (Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Urlaub plane ich inzwischen weit im Voraus und habe von privater Seite währenddessen Arbeitsverbot, weil ich anfangs regelmäßig den Urlaubsbeginn verschoben habe und dann noch mit Arbeitsgepäck losgefahren bin. Ich bin dankbar, dass meine besser Hälfte limitierend eingreift.
Eine Erkenntnis, die über die Semester gereift ist: Viel Lehre ist anders als wenig Lehre. Ich habe viele Jahre an der Leibniz Universität Hannover gelehrt und das waren meist 2 SWS und mal eine Studienabschlussarbeit nebenbei. Hier habe ich formal 18 SWS wovon ich 5 themenbezogen Seminare durchführe, das Praxissemester, Examenskolloquium und Studienabschlussarbeiten betreue sowie dem Prüfungsamt vorstehe (letzteres ist keine Lehre, klar). Die vielen anderen Aufgaben habe ich bereits aufgelistet. Es ist schlichtweg nicht möglich sich in diesem Rahmen so auf die Studierenden einzulassen, wie man das mit 2 oder 4 SWS leisten kann. Diversität leben? Schöne Idee, sie kommt aber sehr schnell an ihre Grenzen. Trotzdem versuche ich jeden Einzelnen im Blick zu behalten und wenn ich merke, dass jemand mit seinem Studium hadert, suche ich das Gespräch und versuche bei einer Entscheidung zu unterstützen. Klar, am liebsten soll sie oder er bei uns weiterstudieren, aber manche Menschen sind hier auch einfach nicht richtig aufgehoben. Die Gespräche bringen erfahrungsgemäß viel, weil die Leute dann meist sehr motiviert weiterstudieren, selten bricht eine/r ab. Auch bringt es einiges, wenn jemand mit einer – wie soll man sagen – schwierigen Haltung studiert, z.B. immer nur auf „quick and dirty“ setzt. Über die Semester verändert sich aber auch der Blick, den man auf die Studierenden hat. Man lernt sie schneller einzuschätzen und – ja, ich gebe es zu – jede/r Einzelne wird eine/r von vielen, die man im Laufe der Zeit kennengelernt hat. Nachfolgende Abbildung von PHD Comics bringt es gut auf dem Punkt, wobei ich trotzdem versuche, jedes Individuum im Blick zu halten (besonders bei „meinen“ Technikern). In den größeren Seminaren bin ich aber längst beim Punkt „A Bell Curve“ angekommen. Muss man sich dafür schämen? Ich glaube es ist unvermeidbar, man sollte nur nicht so mit den Studierenden umgehen sondern jeden persönlich und auf Augenhöhe behandeln.
Quelle: https://twitter.com/phdcomics/status/977616951718670336
Über all die vielen Aufgaben macht es mir Spaß, als Hochschullehrer zu arbeiten und es ist abwechslungsreich und spannend zugleich. Man könnte einiges effizienter machen, es würde dann aber auf die Qualität gehen. Gerade die Lehre bietet das größte Optimierungspotenzial, wenn man nicht noch mal die x-te Rückmeldung z.B. zu einer Studienleistung gibt. Auf der anderen Seite merkt man, dass eine gute Betreuung der Studierenden zu guten Leistungen führt, die dann wieder Beiträge für die Wissenschaftscommunity vorbereiten oder unterstützen können. Auch bin ich der Meinung, dass wir als LehrerInnenbildner eine gute Lehre vorleben sollten. Denn was bringt es, wenn ich hier theoretisch darlege, wie guter Unterricht aussieht, dies aber selber nicht einlöse. Dann habe ich zwar das Wissen vermittelt, das Können sowie die passende Haltung jedoch nicht gefördert. LehrerInnenbildung beinhaltet also große Verantwortung und dafür darf man sich am Ende des Semesters auch gerupft fühlen 😉